Der folgende Brief ist eine Erfindung. Er ist entstanden auf Grundlage der sehr detailreichen Katasterkarte von 1735, einigem Studium der historischen Situation damals und Angaben aus dem Buch von Herbert Kremer, Chronik der Bauernschaften Voerde und Stockum. Das Drumherum ist also einigermaßen historisch, Briefschreiber und Freundin sind rein fiktiv.
Voerde, im Dezember 2020 Hans Martin Seydel

Liebste Charlotte,
ich schreibe Dir bei Kerzenschein in der kleinen Gaststube beim Lindenwirth in Voerde. So kurz vor Martini ist es früh dunkel und so habe ich Zeit gefunden für einen langen Brief. Möge er Dich nicht langweilen!

Wie schön haben wir es doch in unserem lieben Düsseldorf, mit den
gepflasterten Sträßchen und den gemütlichen Häusern! Du weißt, ich bin in
einer Steuerangelegenheit dienstlich in der Herrlichkeit Voerde unterwegs,
aber Du würdest Dich schaudern, wenn Du die hiesigen Verhältnisse so wie ich mit Deinen eigenen, schönen Augen wahrnehmen müsstest. Aber was soll ich jammern! Höre selbst, wie mir geschah.

Ganz ursächlich für das Elend war die Postkutsche nach Wesel, oder genauer dieser Coujon von Postillion, der mir versprach, mich zu dem Schlösschen derer von Syberg zu bringen. Die Fahrt war erst ganz leidlich, die alte Römerstraße war offensichtlich von der Provinzverwaltung ausgebessert worden. Wie groß war jedoch mein Erstaunen, ja besser vielleicht mein Entsetzen, als die Kutsche plötzlich an einer kleinen Brücke anhielt und der Postillion mir bedeutete, ich solle jetzt aussteigen und das letzte Stück Weges zu Fuß zurücklegen. Auf meine Vorhaltung erwiderte er, er könne unmöglich mit seiner Kutsche über die morastigen Wege fahren, der Weg sei auch nicht weit, ich müsste dem Bachlauf folgen, käme dann zu einer Mühle und dann würde ich schon das Wasserschloss erkennen.
Alles Zureden half nicht, die Kutsche fuhr weiter und ich machte mich auf
den Weg. Gott sei Dank, dass ich den Reisekoffer zuhause gelassen und nur
leichtes Gepäck dabei hatte!

Aber zunächst war guter Rat teuer: es war gänzlich unmöglich, dem Bach zu folgen. Nicht nur dass da kein Weg war – beidseits des Wassergrabens wucherte undurchdringliches Gestrüpp und die Flur war mehr von Tümpeln und Morast denn von festem Land. So musste ich wohl oder übel der Landstraße folgen, bis ich dann schließlich einen Weg fand, der etwa in Richtung des Bachlaufs wies. Die Wildnis, die mich bisher begleitet hatte, ließ etwas nach. Hier und da erschienen Flecken kultivierten Landes. Auch Äpfel- und Birnenbäume waren dabei; zu dieser herbstlichen Zeit kahl und trostlos, aber sie mochten im Sommer reiche Ernte gebracht haben.

Meine Zuversicht stieg, als ich vor mir in einiger Entfernung auf dem Weg
ein menschliches Wesen entdeckte. Näher gekommen stand ich einem kräftigen Mann mittleren Alters gegenüber mit von Lehm und Unrat schweren Stiefeln, aber sonst ordentlicher Kleidung. Es musste sich um einen Bauern oder Pächter aus der Gegend handeln. Ich nutzte die Gelegenheit um nach dem Weg zu fragen. Das sei der alte Weg
zum Hamm und ich sollte nach etwa einer Viertelstunde linker Hand einem
Abzweig folgen, Richtung Schult Stockem oder so ähnlich. Das erfuhr ich nach einiger Mühe, wegen des Dialektes, der weniger der deutschen als mehr der holländischen Sprache glich.

Ich frug ihn, ob das umliegende Land das Seine sei, worauf er verneinte und ausführte, dass er das Land lediglich in Pacht habe. Es gehöre der Universität zu Duisburg, wo er in wenigen Tagen, zu Martini, das Pachtgeld abzuliefern habe. Dies erstaunte mich und ich fragte nach näheren Einzelheiten. Sein Name sei Stegemann, erklärte er, und der
Universität würden noch weitere Ländereien in der Umgegend zu eigen sein. Er selbst habe leider den väterlichen Hof verkaufen müssen, wegen der immer weiter steigenden Steuerlasten. Er habe zwei ledige Schwestern und zusammen mit dem Zehnten für die Kirchengemeinde und der Jungfernsteuer und den immer weiter steigenden Abgaben auf Obst und Getreide sei kaum etwas zum Leben übrig geblieben. So sei er nun Pächter auf dem eigenen Hof geworden, während der Preußenkönig nichts anderes im Sinn hätte als seine Regimenter zu mästen.

Ich ermahnte ihn pflichtschuldigst sich respektvoller und ehrerbietig
unserem geliebten König gegenüber zu zeigen. Du weißt, liebe Charlotte, wie ich darüber denke. Auch unterließ ich es, ihn über meine Eigenschaft als preußischer Beamter aufzuklären.

So folgte ich dem angegebenen Weg und fand auch bald die Abzweigung nach links. Leider war das zu früh; ich kam in eine feuchte Gegend, neben der Straße verliefen jetzt Wassergräben und auf den Feldern standen große und kleine Laachen. Ich traf auf eine Art Anger, auf dessen gegenüberliegender Seite anscheinend der Bach floss, dem ich eigentlich folgen sollte. Aber weiter führte lediglich ein sumpfiger Pfad. Das konnte nicht der „gute Weg“ sein, auf den mich der Bauer Stegemann verwiesen hatte. So musste ich umkehren und fand den rechten Weg dann wenig später an der nächsten Abzweigung. Und, siehe da, von der linken Seite her erschien plötzlich mein Bach und verlief neben der Straße.

Und in der gleichen Richtung erblickte ich, wenn auch in einiger Entfernung, eine Windmühle! Das musste die Mühle sein, von der der Postillion gesprochen hatte. Vor mir erschienen jetzt eine Reihe von Häusern, meist klein und mit breitem, geducktem Dach und kleinen Fenstern. Aber auch ein ansehnliches Haus mit zwei Stockwerken war dabei, vielleicht das Haus des Schulten.

Die Straße schwenkte nun nach links, meine Mühle lag rechter Hand. Ich
beschloss die Straße zu verlassen und folgte einem anderen Weg, der mich
schließlich zu der Windmühle brachte. Der Müller war ein mürrischer Kerl; er schien mich nicht zu verstehen und schüttelte nur den Kopf, wenn ich nach dem Schloss der Sybergs fragte. Dicht bei der Mühle verlief eine große
Straße von Süden nach Norden. Es musste die Duisburger Landstraße sein, die von Duisburg nach Wesel dem Rheinufer folgt. Auf dieser Straße näherte sich ein Reiter, den ich anhalten und nach dem weiteren Weg fragen konnte. Er verwies mich die Straße entlang nach Süden. Gleich links an der Wassermühle läge das Schloss. An der Wassermühle! Da habe ich mich von einer Windmühle narren lassen, nur weil man diese auf weite Sicht besser sehen kann!

Die breite Duisburger Landstraße verlief augenscheinlich an einem alten
Flussufer. Linker Hand stieg das Gelände an, während nach rechts hin der
Blick über weites, mit vereinzelten Bäumen bestandenes Grünland schweifte. Hier und dort glänzten in der Nachmittagssonne einzelne Wasserflecken und das ganze Land war von zahlreichen nassen Gräben durchzogen, wohl um die Felder und Grundstücke einigermaßen trocken zu halten. Ganz in der Ferne konnte ich den Mast eines Segelschiffs erblicken, welches in rascher Fahrt den Rhein hinab unterwegs war.

Eine kleine Kate mit Garten, in welchem ein älterer Herr werkelte, erregte
meine Aufmerksamkeit. Ich begann ein Gespräch über das Wetter und erfuhr bald, dass es sich bei meinem Gegenüber um den Schulmeister der reformierten Gemeinde handelte. Eigentlich seien die Lutherischen hier in der Überhand, erklärte er, aber die Herrin von Haus Voerde setze alles daran, der reformierten Gemeinde neue Schäfchen zuzutreiben. Es solle sein Schade nicht sein; so habe er hier eine immerhin auskömmliche Stellung. Aber der Glaubenseifer mache auch böses Blut, wenn sie etwa Heiratsgenehmigungen nur erteile, wenn vorher der Übertritt zur reformierten Gemeinde erfolgt sei. Auch sonst gäbe es viele Streitigkeiten und für manches müsse heute bezahlt werden, was vordem ohne Umstände zu haben gewesen sei. Der neue Herr, Heinrich Jan, sei gerade erst großjährig geworden, daher wisse man noch nicht, wie es weiter gehe mit der Herrlichkeit. Manche sagen, er käme ganz nach der Mutter und habe überdies wenig Interesse an der Landwirtschaft. Das verhieße leider nichts Gutes.

Nachdenklich verabschiedete ich mich von dem Schulmeister. Wie würde wohl mein Empfang auf Haus Voerde werden? Es dauerte nicht lange, da zeigten sich auf der linken Straßenseite eine ganze Reihe von Gebäuden. Den Anfang machte ein Wirtshaus – der Lindenwirth, wo ich schließlich Unterkunft fand – und dann noch eine ganze Reihe kleiner Katstellen. Aber kaum hatte ich die Wirtschaft passiert, erblickte ich, nur leicht verdeckt von jungen Bäumen einer Allee, das Wasserschloss Derer von Syberg. Und ich hörte das übliche Klappern einer Wassermühle. Diese stand an einem kleinen Platz, zu welchem sich die Landstraße hier erweitert hatte. Die Mühle selbst war ein niedriges, lang gestrecktes und eher bescheidenes Bauwerk, wohl weitgehend aus Holz. An der Schmalseite drehte sich das Mühlrad. Die Wohnung des Müllers, so deuchte mir, befand sich in einem abgesonderten kleinen Haus.

Neugierig ging ich um die Mühle herum und stieg auf die Höhe des zulaufenden Wassers. Vor mir erstreckte sich der Mühlenkolk als eine große Wasserfläche bis hin zum Schloss. Aber darin eingelagert lag wie eine Insel ein prächtiger kleiner Park, gar zierlich angelegt nach der neuesten Mode. Davor eine Art Gemüsebeet, dass – mit Verlaub – etwas mehr Pflege hätte gebrauchen können. Weiter hinten erkannte ich noch einige Obstbäume und Wirtschaftsflächen. Alles war mit kleinen Wegen umgeben. Diese führten zu einer Brücke. Dort musste sich irgendwo hinter dem Schloss der Zugang zu demselben befinden.

Gerade als ich mich dorthin auf den Weg machen wollte, erschien hinter mir der Müller, leicht zu erkennen an seiner staubigen Kleidung. Eigentlich wollte er mich hier vertreiben, aber als ich ihm erklärte, dass ich bereits beim Schloss gemeldet sei, beruhigte er sich. Die Mühle gehöre zum Schloss und wegen des Mahlzwangs dürfe hier auch nur für den Bedarf der Herrschaften und der Pächter gemahlen werden. Außer den Ländereien gebe es nämlich eine Reihe von Pachtstellen; so seien die meisten der Häuser an der Landstraße und auch die Lindenwirtschaft der Herrschaft zugehörig. In den kleinen Katen lebten auch einige Handwerker; so gebe es einen Schuster, einen Klompenmacher und einen Kesselschmied. Dort an der Landstraße könnten sie ganz gut verdienen, das sei aber auch nötig, bei den ständig steigenden Pachten.

Nach dem Gespräch machte ich mich auf Richtung Schloss. Ich folgte zuerst
der Allee, bis eine Brücke über den Wassergraben den Zugang in den großen Wirtschaftshof gewährte. Um ein hübsches Brunnenhäuschen herum waren in einem Vierecke Ställe, Speicher und Wagenremisen angeordnet. In einem Stall konnte ich mehrere schöne Pferde entdecken.
Eine weitere breite Brücke mit zwei steinernen Pfeilern führte in den
eigentlichen Schlosshof. Rechter Hand befand sich hoch aufragend das
Hauptgebäude mit dem Eingangsportal. Gegenüber waren die Ecken des
Schlosshofes durch zwei kurze, turmartige Bauten markiert, die
augenscheinlich jedoch den Herrschaften heute als Pavillon zur Einnahme des Nachmittagskaffees dienen mochten.

Das Portal öffnete sich und ein Bedienter trat heraus. Ich erläuterte mein
Anliegen und bat vom Freiherrn empfangen zu werden dürfen. Dies sei leider nicht möglich, erwiderte er; der junge Herr sei unterwegs. So möchte ich untertänigst mit der Herrin von Voerde vorlieb nehmen. Ich wurde in einen Salon gebeten und nach kurzer Zeit erschien eine hagere, fast ganz in
Schwarz gekleidete Dame. Nach sehr beschränktem Austausch von Höflichkeiten verständigten wir uns auf den morgigen Tag zur Besprechung der steuerlichen Angelegenheiten. Ungeachtet meiner vorsichtigen Andeutungen über die beschwerliche Reise und den langen Fußmarsch kam es jedoch nicht zu der erwarteten Einladung zur Übernachtung. Am Ende des Besuchs verwies sie mich kurzum wieder an ihren Bedienten, der mir den Lindenwirth zur Übernachtung empfahl.

Hier sitze ich nun, nachdem ich in der Wirtsstube ein einfaches, aber
durchaus geschmackvolles Abendmahl zu mir genommen habe. Wollen sehen, was der folgende Tag uns bringen wird. Die Rückfahrt werde ich jedenfalls nicht wieder über Mülheim, sondern über die Duisburger Landstraße, über Duisburg und Angermund fahren. Auch da soll es eine Postkutsche geben.

Liebste Charlotte, so wirst Du den folgenden Tag wohl wieder ohne mich
verbringen müssen, aber ich bin zuversichtlich, dass ich Dich, so Gott will,
übermorgen wieder in meine Arme werde schließen können.
In Sehnsucht und Liebe
Dein P.v.S.